Lyrikecke

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Sonnenaufgang in Venedig

Erwachende Glocken. – In allen Kanälen

Flackt erst ein Schimmer, noch zitternd und matt,

Und aus dem träumenden Dunkel schälen

Sich schleiernd die Linien der ewigen Stadt.

Sanft füllt sich der Himmel mit Farben und Klängen,

Fernsilbern sind die Lagunen erhellt. –

Die Glöckner läuten mit brennenden Strängen,

Als rissen sie selbst den Tag in die Welt.

Und nun das erste flutende Dämmern!

Wie Flaum von schwebenden Wolken rollt,

Spannt sich von Turm zu Türmen das Hämmern

Der Glocken, ein Netz von bebendem Gold.

Und schneller und heller. Ganz ungeheuer

Bläht sich das Dämmern. – Da bauscht es und birst,

Und Sonne stürzt wie fressendes Feuer

Gierig sich weiter von First zu First.

Der Morgen taut nieder in goldenen Flocken,

Und alle Dächer sind Glorie und Glast.

Und nun erst halten die ruhlosen Glocken

Auf ihren strahlenden Türmen Rast.

Stefan Zweig (1881 – 1942)

                                                Ausgewählt von Wolfgang Gerster

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