Francesca Melandri: „Alle außer mir“

Francesca Melandri: „Alle außer mir“

Ich möchte heute den neuen Roman „Alle außer mir“ von Francesca Melandri vorstellen. Er ist eine Zeitreise durch das letzte Jahrhundert italienischer Geschichte. Der Beginn des Faschismus unter Mussolini wird beschrieben und die Zeit des Kolonialismus in Afrika. Weitere Themen sind der Abessinienkrieg von 1935 bis 36, und die sich anschließende Besetzung Äthiopiens. Der Roman endet mit der Kriegs– und Nachkriegszeit bis hin zur Aera Berlusconi. Francesca Melandri verknüpft das Schicksal einer fiktiven römischen Familie mit realen geschichtlichen Ereignissen. Die Hauptfigur, Attilio Profeti, wurde 1915 geboren, ist im  Jahr 2010 95 Jahre alt und dement. Der Titel des Buches „Alle, außer mir“ bezieht sich auf ihn: ‚Alle, nur nicht ich. Ich hatte immer Glück, ich bin davongekommen, ich der Gute‘. So beschreibt er sich selbst – und niemand aus der Familie hat es jemals hinterfragt, dass er als Faschist und Verfasser von Rassentheorien am Abessinienkrieg teilgenommen hat. Dies behält er für sich. Nach dem Krieg baut er eine Karriere auf, die von Korruption geprägt ist. Doch die Vergangenheit holt ihn ein. Plötzlich steht ein dunkelhäutiger Afrikaner vor der Tür von Ilaria Profeti, der Tochter Attilios. Der junge Mann behauptet auch, den Nachnamen Profeti zu tragen. Er war in lybischen Gefängnissen, hat Folter und Demütigungen erlebt. In seinem Land Äthiopien steht immer noch die Korruption an der Tagesordnung. Wer der Regierung kritisch gegenüber steht, wird verfolgt oder mit dem Tod bedroht. Illaria zögert zunächst, nimmt dann aber doch Recherchen auf und stößt so auf die Vergangenheit ihres Vaters. Er war eben nicht immer der Gute. Italien und Äthiopien haben eine gemeinsame komplexe Vergangenheit. Europa und Afrika können keineswegs getrennt voneinander betrachtet werden. Die Kolonialzeit hat dafür den Boden bereitet. Der Kolonialismus des letzten Jahrhunderts bestimmt heute noch die Verteilung von Wohlstand Und so hängen Kolonialismus, Flucht und Migration immer noch zusammen. Unsere Gesellschaft muss begreifen, dass es keine Hierarchie der Rasse und des Blutes gibt. Somit gibt es auch kein richtiges Blut. Der Originaltitel des Buches lautet aber provokant „Sangue Giusto“ übersetzt: das richtige Blut. Francesca Melandri hat viele Jahre für den Roman recherchiert, in Italien und Äthiopien. Das Buch umfasst die Zeit von 1915 bis 2010 und lässt sich vom Stil her gut lesen. Die historischen Zusammenhänge werden aussagekräftig geschildert. Manche Details hätte ich mir weniger ausführlich gewünscht. Dies betrifft den zwischenmenschlichen Bereich oder die Beschreibung der Kriegshandlungen. Nicht einfach zu lesen sind die gut 100 Seiten in Kapitel 18. Es geht darin um den Abessinienkrieg und die Besatzungszeit danach. Ich musste manchmal abbrechen. Manche Passagen machen schon sehr betroffen und sind nicht leicht zu ertragen. Der Roman „Alle außer mir“ beschreibt eindringlich, wie Verdrängung funktioniert. Populismus und Rassismus können heute wieder an Boden gewinnen, eben auch weil Italien seine faschistische Vergangenheit nicht genügend aufgearbeitet hat. Das Land kämpfte zuerst an der Seite Nazi–Deutschlands, wurde dann aber von den Deutschen besetzt. Es gab eine große italienische Widerstandsbewegung. Aber Kriegsverbrechen wurden weniger geahndet als in Deutschland. Die Italiener sahen sich eher als Opfer oder als „Die Guten“, die „brava gente“, wie man in Italien sagt. „Alle außer mir“ ist für mich ein lesenswertes Buch. Besonders beeindruckt hat mich, wie die heutige Migrationsproblematik im Zusammenhang mit der Kolonialisierung gesehen werden muss. Erschienen ist es im Wagenbach Verlag, umfasst 600 Seiten und kostet 26,- €.
(Cornelia Graen)

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