Italienische Reise 2022
Eine herrliche Idee – Goethe und Kniep in Pästum (IV.)
Als Goethe südlich von Neapel die dorischen Tempel von Pästum durchstreift, fremdelt er. Derartig schwerlastendes Gebälk und solche fast plumpen Proportionen hatte er nicht erwartet. Es dauert, bis sein zweifelnder Geist sich anfreunden konnte. Auf seiner Rückreise nach Rom thematisiert Goethe das Thema Pästum in jenem berühmten Brief an Herder: Es ist die herrlichste Idee, die ich nun nordwärts vollständig mitnehme (IR, II, 17. Mai 1787). Der Italienverehrer und Weimarer Minister verweist auf ein beiliegendes Blatt, dass bis heute nicht auffindbar ist. Es bleibt somit ein Geheimnis, worin eigentlich jene herrlichste Idee besteht. Welchen Inhalt sie hat, würden wir gern in Erfahrung bringen.
Zwei Indizien könnten weiterhelfen. 1. Goethe war bekanntlich mit dem Hildesheimer Maler Kniep unterwegs in Sizilien und Pästum. Sie trafen eine Übereinkunft, nach der Kniep malt und zeichnet und Goethe für Lebenshaltung aufkommt sowie für spätere Aufträge sorgt. Knieps präzisen Aquarelle und Rötelzeichnungen gelten in der Kunsthistorie als Werke von hohem dokumentarischen Wert. Läge es dann nicht nahe, in diesen Aufnahmen des Hildesheimers verborgene Hinweise auf jene herrlichste Idee seines Brotgebers zu suchen und zu finden? 2. Goethe, ein Mann der Tat, arbeitete den Garten an der Ilm sofort nach seiner Italien-Rückkehr um. Das Römische Haus wird nach seinen Planvorschlägen am Hang über dem Flusstal errichtet. Der Bau bedurfte einiger Substruktionen, um nicht in der Luft zu schweben. Diese Unterbauten schuf Goethe aus extrem breiten, dorischen Säulenstümpfen. Wäre es nun allzu abwegig, in dem vom Tat-Menschen Goethe gestalteten Weimarschen Park an der Ilm mögliche versteckte Indizien seiner herrlichsten Idee aufzufinden und zu entschlüsseln?
Mit diesen Hildesheimer Hypothesen gerüstet besuchten wir am 16. Mai den ersten öffentlichen Auftritt des neuen Leiters der Casa di Goethe, Dr. G.H. Lersch, in der Via del Corso 18, Roma. Im Stehkonvent trugen wir ihm vor, dass im Jahre 2025 sowohl der 200. Todes- als auch der 270. Geburtstag von Maler Kniep sich jähre. Wäre das Jubiläum in Verbindung mit der erwähnten herrlichsten Idee nicht eine würdige Ausstellung wert in den vorzüglich geeigneten Räumen der Casa di Goethe? Lersch zeigte sich diplomatisch zugeneigt, wir hoffen auf offene Ohren seiner beratenden Gremien.
Das heutige kleine aber feine Goethemuseum diente dem Italiensüchtigen 1786/88 als Dauer-Herberge. Tischbein war der Hauptmieter jener Männer-WG unmittelbar stadteinwärts gleich hinter der Porta del Popolo, der Eingangspforte aller aus dem Norden Einreisenden, durch die auch Goethe endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt ist (IR, I, 1. Nov. 1786). Im Kontext römischen Karnevals erzählt Goethe von einem ausgelassenen Treiben, das urplötzlich beginnt mit einer Glocke vom Capitol. Nun sei es erlaubt, unter freiem Himmel töricht zu sein, jedenfalls zwischen der Piazza del Popolo und dem venetianischen Palast, also dem gesamten Corso entlang, der seinen Namen dem finalen Pferderennen verdankt (IR, III, Das Römische Carneval). Damals war die Zeitspanne, töricht zu sein, noch auf wenige Tage des Karneval beschränkt! Wird dann heute einmal der verrückte Verkehr der Motoren von der Piazza und dem Corso ausgesperrt, weil z.B. Kino gedreht oder Katastrophen geübt werden, ergehen sich scharenweise tausende Touris und Konsumenten, stets und überall sich selbst filmend und bespiegelnd, auf nämlicher Strecke – Rom als bloße Bühne flacher Eitelkeiten. Wie würde Goethe das Geschehen wohl in Poetenworte gießen? Als wir unter dem Obelisken des Popolo einem jungen argentinischen Paar einige Worte entlockten, stießen wir beim Namen unseres Dichterfürsten auf blankes Unverständnis. Ja, zum Thema Deutschland fiel ihnen denn doch tatsächlich etwas ein: Hofbräuhaus, Fußball und Berlin – der gestürzten Mauer wegen. Bei einem abschließenden Spaziergang durch den Park der Villa Borghese gaben wir uns der Hoffnung hin, dass dieses Gespräch doch wohl keinerlei repräsentativen Charakter gehabt haben könne.
Der Heilgott Äskulap im dortigen Seetempel bestärkte unsere angenagte speranza und getröstet traten wir den Heimweg an.
Die sympathische Vermieterin, Emmanuela, sahen wir nicht wieder, sie besaß einen dringlichen tèrmine speciale bei ihrem dentista, schade. Rom verlassen schmerzt. Drei Tage später vermeldete sie telefonisch eine erfolgreiche Behandlung. Ende gut, alles gut. Fortsetzung folgt.
(Werner Dicke & Kristina Osmers)
Anmerkung der Redaktion:
Aus dieser „Italienischen Reise 2022“ in 8 Teilen, verfasst von unseren Mitgliedern Werner Dicke und Kristina Osmers, veröffentlichen wir ausgewählte Kapitel in den nächsten Ausgaben von IL PONTE. Die farbig bebilderte Gesamtpublikation soll im „Hildesheimer Kalender“ 23 erscheinen, er geht im Dezember 2022 in Druck. (zen)