Lyrikecke

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Das alte Lied

Kannt ihr vom hehren Venedig

Das alte, ewige Lied?

Das werden die Reisebeschreiber

Zu singen nimmer müd:

 

Ein Demokrit ist der Himmel

Und lächelt das ganze Jahr,

Pomeranzen und Zitronen

Blühn wonnig im Januar;

 

Am Ponte Rialto flittert’s

Von Gold und flimmert und flirrt,

Der Markusplatz ist immer

Mit den schönsten Damen garniert;

 

Auf der Riva wimmelt und wogt es

Lebendig den ganzen Tag,

Matrosen und Gondoliere

Sind ein reizender Menschenschlag.

 

Doch in Kanälen und Gassen,

Da löset sich Stein um Stein

Und fällt melancholisch langsam

In die düstere Flut hinein.

 

Und in den alten Kirchen

Schreckt Moderduft den Sinn,

Die Dogen auf ihren Gräbern,

Sie haben alle den Spleen.

 

Ruinen sind die Paläste,

Die Lagunen ein weites Grab,

Und nur die Fremden spazieren

Gemütlich auf und ab.

 

Das ist vom hehren Venedig

Das alte ew’ge Lied;

Das werden die Reisebeschreiber

zu singen nimmer müd.

 

Robert Hamerling (1830 – 1889)

Ausgewählt von Wolfgang Gerster

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