Blumen, Fresken, Kalorien – unterwegs in den Abruzzen im Mai 2022 mit dem OVH und der DIG Hildesheim
Endlich war es Mitte Mai wieder soweit. Nach zweijähriger coronabedingter Pause folgten 18 Personen dem jüngsten Angebot des Ornithologischen Vereins zu Hildesheim (OVH) sowie der Deutsch-Italienischen Gesellschaft Hildesheim (DIG), neun spannende Tage im Majella-Nationalpark in den Abruzzen zu verbringen. Die Abruzzen mit einer Gesamtfläche von 10.000 qkm sind die nördlichste Region Süditaliens. Sie steht zu einem Drittel unter Naturschutz. Im Norden liegt der Nationalpark Gran Sasso, etwa doppelt so gross wie der Landkreis Hildesheim, etwas weiter südlich der kleinere Majella-Nationalpark, und im Westen der Regionalpark Sirente-Velina.
Als eher unbekanntes Juwel im Italientourismus punkten die Abruzzen vor allem bei botanisch Interessierten, Wanderbegeisterten und Fans guter regionaler Küche. Vom Wohlstand durch den Wollhandel bis ins 18. Jahrhundert zeugen die zahlreichen Kirchen und schmucken Ortschaften, die die Reise jedesmal zu einem perfekten Mix von Natur- und Kulturerlebnissen macht. Vielleicht war es gerade die bezaubernde topografische Vielfältigkeit, die den Abruzzesen einst den jahrzehntelangen Widerstand gegen die Integration in das alte Römische Reich ermöglichte.
Die rund 1500 km lange Anreise zum Hotel in Caramanico Terme meisterten alle Teilnehmenden ganz nach individuellem Gusto, entweder per Flugzeug, mit Privatwagen oder Bahn. Das schön gelegene Hotel in Caramanico Terme bot komfortable Unterkunft – mit einem das landesübliche ‘Cornetto & Cafè`, süßes Hörnchen mit Expresso, weit übertreffenden Frühstücksbuffet – und einem allabendlichen 5-Gänge-Menü bestehend aus hausgemachten regionalen Köstlichkeiten. Bei diesem Verwöhnprogramm mußte der eine oder die andere den Gürtel im Laufe der Tage schon etwas lockern. Zu verführerisch waren die kredenzten Antipasti, Nudelgerichte wie die ‘Linguine alla Pescatora’, Hauptgerichte wie Lamm ‘Agnello Grigliato’ und nicht zu vergessen die diversen Dolci – süße Nachspeisen aller Art -, und als Übergang in den geselligen Teil des Abends Kräuterlikör und Espresso.
Für einige folgte dem Abendessen aber auch akribisches Botanisieren. Tagsüber nach eigenem Fachwissen bestimmte Pflanzen wurden abends der kritischen Überprüfung anhand eigens aus der Heimat mitgebrachter Fachbücher unterzogen. Nur mit absoluter Sicherheit bestimmte Pflanzen erhielten das Kreuzchen für `Gefunden` in der zahlreiche Seiten umfassenden privaten Bestandsliste des Ehepaares Galland. In ihr führt es die seit vielen Jahren mit wissenschaftlichem Namen in der Region von ihnen gesehenen Pflanzen. Ein wichtiger Schritt, der gewisse Aussagen über die Bestandsentwicklung ermöglicht. Dieses Jahr wurden zudem mehrere neue Pflanzen entdeckt und in der Liste ergänzt. Begünstigt wurde die Suche dieses Mal durch die Nutzung verschiedener Apps, mit deren Hilfe schon vor Ort Pflanzen anhand von Fotos mit ziemlicher Genauigkeit bestimmt werden konnten.
Aber nicht nur die botanisch Interessierten hatten ihren Spaß. Für die gute Kost ausgleichende Bewegung war ebenfalls reichlich gesorgt. Selbst die höheren Semester erbrachten persönliche Bestleistungen, auf den Hochebenen wie durch die Schluchten des Flusses Orta oder seines Nebenflusses Orfento. Dort gedeihen Hirschzungen- und Streifenfarne im Schatten alter italienischer Ahorne, Buchen und Feigenbäumen. Und auch Orchideen finden sich dort im Mai in Hülle und Fülle – so z.B. Massenbestände an weinrot und gelb blühendem Holunderknabenkraut, Hummel- und Sommerragwurz, das Kuckucksknabenkraut, das langblättrige Waldvögeln und der dunkle Bart Dingel. Markant in den Schluchten waren ebenfalls die Alpenveilchen und der stechende Mäusedorn, gesehen mit dem ewigen Rauschen der Flüsse im Ohr, von alltäglichen Gedanken befreit, nur dem Moment verpflichtet. Nicht umsonst waren in den Steilwänden entlang der Schluchten über viele Jahrhunderte Einsiedeleien entstanden, heute noch Ziele von Wandernden. Entlang der gut ausgeschilderten Wanderwege bezeugen fellhaltige Hinterlassenschaften die Präsenz des Apennin-Wolfs, der im Majella-Nationalpark bereits seit den 1970er Jahren unter Schutz steht. Vom Braunbären war jedoch leider oder zum Glück keine Spur.
Zur landschaftlichen Vielfalt der Abruzzen gehören neben den Schluchten auch die weiten Hochebenen des Nationalpark Gran Sasso, im Volksmund das Kleine Tibet genannt, mit dem Campo Imperatore auf rund 1600 m Höhe, ausgedehnt über eine Fläche von 30 km Länge und 8 km Breite. Bei steifer Brise und kühlen 12 Grad blühten dort in beeindruckender Zahl Frühlingsenziane, weiße Apeninnen-Sonnenröschen, Berghähnlein, große Bestände an Alpen-Kuhschellen, die zierlichen Traubenhyazinthen und natürlich die hellblauen Krokusse. Im Herbst, also einige Monate später, wird in dem eine Autostunde westlich von Caramanico Terme gelegenen Örtchen Navelli aus einem anderen Krokus der kostbare Safran gewonnen. Nun aber, im italienischen Frühling, traf die Gruppe inmitten der Blütenpracht neben Deutschen auch ein paar Italiener, die auf der Suche nach dem spinatähnlichen Guten Heinrich und Maipilzen waren. Wie bei uns eher Sport als Notwendigkeit. Denn in jeder Ortschaft, auch in Caramanico Terme, gibt es kleine Lebensmittelgeschäfte mit frischem Gemüse und Obst und natürlich einem großem Sortiment an Wein, Teig- und Süßwaren.
Auch von den lokalen Wochenmärkten machten sich die Reisenden ein Bild. Der originelle Wochenmarkt und historische Stadtkern von Sulmona mit seinen vielen kleinen Geschäften, die freskengeschmückte und sehr gut erhaltene Kirche von San Clemente und die Eisdielen mit hausgemachtem köstlichem Eis in San Valentino und Sulmona, das sind kulturelle Highlights, die niemand verpassen sollte. Auch die Burg von Calascio ist einen Besuch wert. Sie kann von unten erwandert werden. Auf diesem Weg ist es bis heute möglich, einem der vielen Schäfer mit seiner Schafherde zu begegnen. Dabei sollte auf die Hütehunde geachtet werden, die sich in fast perfekter Camouflage in der Schafherde befinden. Eine kleine Herde kann von neun fast hüfthohen, schafweißen, langfelligen, sich majestätisch sparsam bewegenden Maremmano-Hunden gehütet werden. Sie behalten die Herde beständig im Blick. Nähern sich Fremde, laufen die beiden ranghöchsten Hunde sofort zum Schäfer, um zu klären, ob es Freund oder Feind ist. Krault er sie nur beruhigend am Hals, wissen sie Bescheid und trollen sich zurück zu den Schafen. Auf jeden Fall ist es schon spannend, einige Momente in ihrem aufmerksamen Visier zu sein. In früheren Zeiten bauten sich die Schäfer Rundhäuser aus geschickt aufgestapelten Steinen zum Schutz gegen Wind und Wetter auf ihren Sommer-Winter Zugrouten über die ausgedehnten Bergwiesen. Viele dieser Hütten sind über die Jahrhunderte von Erdbeben zerstört und wurden auch nicht mehr gebraucht. An einem Ort hat sich jemand allerdings die Mühe gemacht, einzelne Steinhütten zur Besichtigung wieder aufzubauen, einschließlich Steindach, nach traditioneller Technik, ohne Mörtel. Die Fläche der relativ flachen Steine soll sich zu 70 Prozent überlappen. Die Schwerkraft richtet es, dass so von der Außenmauer nach oben ein kreisrundes Dach entsteht. Gesehen im (Freilicht-) Museo Paleolitico.
Zu den Abruzzen gehört eine lebhafte Volksmusik mit viel Gesang und Tanz. Im Rahmen einer Weinprobe spielte eine junge virtuose Italienerin auf, mit Harmonika und ‘Zampogna’, einer Sackpfeife ähnlich dem Dudelsack, regional kunstvoll gefertigt aus klangvollem Oliven- und Kirschholz. Früher vertrieben sich die Hirten mit der Zampogna die Zeit, als sie monatelang mit den Schafen unterwegs waren. Und spielten ihre Musik auch, als sie zu Weihnachten wieder zu Hause waren. Daraus entwickelte sich eine für Italiener klassische Weihnachtsmusik, wovon auch die junge Musikerin eines vorstellte. Als Höhepunkte spielte sie zum traditionellen Tanz ‘Saltarello’ auf und es wurde ein wenig getanzt. Die zierliche Frau ist nicht nur eine begabte Musikerin, sondern sie unterrichtet auch am lokalen Konservatorium. Die Traditionen werden auf neuen Wegen gepflegt und leben so fort.
Insgesamt konnten botanische Erfolge erzielt werden: Mehrere neue Pflanzenarten wurden gefunden. Ornithologisch war allerdings weit mehr zu hören als zu sehen, wahrscheinlich als Folge des auch in den Abruzzen zu spürenden Klimawandels. So fiel während der gesamten Tage kein nennenswerter Regen. Der am häufigsten gehörte Vogel war der Gartenrotschwanz, aber auch Wiedehopf, Nachtigall, Grauammer, der Pirol, sowie gute Bekannte wie der Grünspecht, Mäusebussard, Zaunkönig, diverse Schwalben, Graureiher, und ein Schlangenadler. Eine dank der Topografie sehr vielfältige Welt, die auf einer der nächsten Reisen genauer betrachtet werden könnte.
Ganz nebenbei haben alle Reisenden viel gelernt, seien es wissenschaftliche Pflanzennamen, die vielfältigen abruzzesischen Gerichte oder einfach die faszinierende Vielfalt der Landschaft. Ein herzliches Dankeschön galt am Ende dem unermüdlichen Ehepaar Maria und Bernd Galland und dem Logistikmeister Cav. Enzo Iacovozzi, die diese wunderschöne Reise im Namen des OVH ermöglichten. Auf ein nächstes Mal. (Gabriela Neumann)